2009年1月27日 星期二

●Die roteste aller Sonnen

Mitte des 20. Jahrhunderts ereignete sich in China sozusagen eine Fusion von importierter sowjetischer «Religion» und chinesischer Machtgier, welche sich in den Kaiserhöfen verschiedener Dynastien über Jahrtausende entwickelt hatte.

 
文/顏敏如 yenminju

Die roteste aller Sonnen

24. Januar 2009, Neue Zürcher Zeitung
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/die_roteste_aller_sonnen_1.1770131.html

Verbrechen und Wahn – eine Erinnerung an das Grauen der chinesischen Kulturrevolution von 1966 bis 1976
Unfassbar ist, was sich während der chinesischen Kulturrevolution in den sechziger Jahren abspielte. Die von Mao und Getreuen mobilisierten und manipulierten jugendlichen Roten Garden fielen über alles her, was als reaktionär denunziert werden konnte. Der Terror forderte bis zu sieben Millionen Opfer, er hinterliess unermessliches Leid und ein kulturelles Vakuum. Bis heute ist in China jedes Gedenken an den Schrecken verboten.

Von Yen Minju

«Eines Tages sah ich, wie der Onkel grosse chinesische Schriftzeichen in roter Farbe auf die weissen Wände beiderseits der Haustüre schrieb. Links: Rechts: Der Onkel hatte zunächst sorgfältig den Schreibgrund mit waag- und senkrechten Linien in Quadrate geteilt und schrieb nun mit roter Farbe Strich für Strich im Stile der Song in diese hinein. Die auf den weissen Wänden senkrecht geschriebenen Wörter sahen aus wie jene eines Reklameschilds.

Die Wand war hoch. Der Onkel arbeitete angestrengt. Schweiss stand ihm auf der Stirn, und er musste keuchen. Eine Stimme aus der Schar Zuschauer meldete sich: Ich war auch begeistert. Obwohl das Porträt des Vorsitzenden Mao im Haus aufgehängt worden war und gross und klein geschriebene Zeichen für und Dutzende Parolen überall im Haus zu sehen waren, hatte der Onkel bis dahin öffentlich seine Treue noch ungenügend bekundet.

Das rechtzeitige Bekenntnis war lebenswichtig: Der Onkel erklärte sich für treu dem Vorsitzenden gegenüber, trotz seiner zweifelhaften Familienherkunft. Jetzt konnten die vorbeigehenden Dörfler sehen, dass die Revolution in Onkels Herz hineingraviert worden war. Rot verheisse Leben, tröstete die von Furcht heimgesuchte Tante.»

So schrieb ein Chinese, der die Kulturrevolution überlebte.

Jedes Gedenken verboten

1986 rief der Schriftsteller Ba Jin die Parteizentrale auf, ein Kulturrevolutions-Museum zu bauen. 1995 ist das «Museum» in der Form von zwei grossen Bänden in Hongkong erschienen. 2006, vierzig Jahre nach dem Ausbruch der Kulturrevolution, verbot der Staatspräsident Hu Jintao jede Form von Andenken an sie. Was bleibt, sind die beiden Bände und die Erinnerung an ein Grauen, für welches Worte und Bilder erst noch erfunden werden müssten.

Die Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976, die von den Chinesen selbst als «Zehn-Jahre-Katastrophe» bezeichnet wird, ist, anders als die von Unterdrückten organisierten Revolutionen, welche bestehende Herrschaftsverhältnisse zu stürzen suchten, von den Machthabenden initiiert worden, um reale sowie vermeintliche Gegner in der Kommunistischen Partei zu liquidieren. Sie ereignete sich nicht von heute auf morgen, folgte aber der Logik des politischen Prozesses. Historiker nennen den Zeitraum zwischen der Gründung Chinas 1949 und dem Anfang der Kulturrevolution 1966 «die siebzehn Jahre». Kontinuierliche politische Kampagnen waren die Hauptbeschäftigung der Chinesen während dieser Zeit. Die Etappen hiessen: 1950 – Bodenreform; 1951 – «Unterdrückung der Reaktionäre»; 1952 – «Drei-Anti-» und «Fünf-Anti-Kampagnen»; 1955 – «Liquidierung der Reaktionäre»; 1957–58 – «Anti-Rechtsabweichler-Bewegung»; 1959–61 – Politik der «drei roten Banner»: «Hauptroute des sozialistischen Aufbaus», «Grosser Sprung nach vorn» und «Grosse Stahlproduktion», Volkskommunen; 1963 – Kampagne der Sozialismus-Ausbildung; 1966 – Kulturrevolution.

Was man tat, sprach und dachte, wurde von der Auffassung der KPCh über Marxismus-Leninismus bestimmt. Mitte des 20. Jahrhunderts ereignete sich in China sozusagen eine Fusion von importierter sowjetischer «Religion» und chinesischer Machtgier, welche sich in den Kaiserhöfen verschiedener Dynastien über Jahrtausende entwickelt hatte. Die Realisierung der Parole «Eliminierung der Ausbeutung der feudalen Gutsbesitzerklasse – Bodenbesitz für die armen Bauern» wurde mit eiserner Faust erzwungen: Von 310 Millionen Landbesitzern, wohlhabenden Bauern und Kleinbauern kämpften 30 Millionen erfolglos um ihr Hab und Gut. 1 Million wurde hingerichtet, zahlreiche begingen Selbstmord. Es gab auch eine Zeit, in der die Schulen gemäss Regierungsauflagen jährlich fünf bis zehn Prozent ihrer Schüler und Studenten als Reaktionäre verhafteten. Um ihre eigene revolutionäre Linientreue zu dokumentieren und den Anschein zu geben, die Aufgabe schnell und sauber verrichtet zu haben, übererfüllten die Funktionäre ihre Arbeit. Die Beauftragten sammelten Information über die Studierenden, wozu Gespräche mit diesen und Versammlungen zur politischen Ausbildung benützt wurden. Wer irregeleiteter oder irreführender Gedanken überführt wurde, sah sich in «laogai»-Verbannungslager (wörtlich: «Reform durch Arbeiten») verschickt. Doch war damit der Gipfel an Grausamkeit noch nicht erreicht.

Nach dem Debakel des «Grossen Sprungs nach vorn» gewannen pragmatischere Kräfte unter den Fraktionen von Liu Shaoqi, dem Staatspräsidenten, und Deng Xiaoping, dem Generalsekretär, an Einfluss. Beide lancierten eine Reformpolitik, von der Arbeiter und Bauern profitierten und die den Personenkult Maos kritisierte. Mao Zedong, der Parteivorsitzende und Architekt verschiedener Kampagnen, musste nach hinten treten, sein Glanz wurde nun von dem Erfolg Lius überschattet. Dies konnte Mao nur schlecht verwinden. Er gründete 1964 das Kulturrevolutionskomitee und begann die Samen seiner Verschwörungstheorie («In China existiert eine bürokratische kapitalistische Klasse») überall zu säen. Im August 1966 wurden in den Schulen, auf den Strassen und öffentlichen Plätzen Wandzeitungen aufgeklebt, auf denen zu lesen war, dass Lius Agieren dem Mao-Zedong-Denken widersprach. Das Publikum wurde aufgepeitscht, Liu in jeder erdenklichen Weise anzuschwärzen. So wurde Liu gezwungen, zahlreiche «Fehler» zuzugeben und umfangreich Selbstkritik zu üben.

Feinde überall

Obwohl die Kultur- und Kunstschaffenden die Partei unterstützten, lehnten sie es nach den «drei bitteren Jahren» (1958–1961) ab zu schweigen. Für kurze Zeit wandten sie sich gegen das Dogma der Partei und galten daher sofort als Gegner der «Grossen Proletarischen Kulturrevolution», welche Imperialismus, Reaktionäre, Feudalismus, Kapitalismus und Revisionisten als Zielscheiben betrachtete, gemäss der Logik: Wer nicht für die Partei ist, ist gegen die Partei. Mao hätte sie alle einfach zum Schweigen bringen können, zog es aber vor, sie zu manipulieren, die sogenannten «reaktionären» Parteimitglieder und die «Reaktionäre» in der Bevölkerung gegeneinander aufzuhetzen.

In den «siebzehn Jahren» betrachteten die chinesischen Führer den Marxismus-Leninismus als höchstes Gut für die Nation. Diese theokratische Fusion von Macht und Ideologie dachte sich auch folgerichtig ein neues Verbrechen gegen sich selbst aus – die gedankliche Abweichung! Ganz China hatte einer Denkungsart zu folgen. Wer und was dagegen verstiess, musste liquidiert werden. Da die Volkswirtschaft ohnehin nicht gerade blühte, konnte durch eine allgemeine Rationierung Wohlverhalten, ja Enthusiasmus zusätzlich gefördert werden. Zum Essen benötigte man Lebensmittelscheine; für Kleidung Stoffscheine; für Besuche und Heiraten Erlaubnisscheine, und um in anderen Regionen betteln zu können, musste man zunächst die Bewegungserlaubnis erhalten. Diese kaltblütige Kontrolle aller Daseinsbereiche wirkte wie ein Dirigierstab, der die Schritte der Menschen kommandierte, und führte auch gleich zur entsprechenden Korruption der involvierten Parteibehörden. Wenn alle Freiheiten mit Gewalt entzogen werden, bleibt nur eines: Gehorchen! Die Denker hörten auf zu denken, die Schreibenden auf zu schreiben. Die ganze Bevölkerung Chinas verinnerlichte einen einzigen Leitsatz: Das Mao-Zedong-Denken ist die absolute Wahrheit!

Unter der Losung «Unter der Herrschaft des Proletariats wird weiter revolutioniert» entzündete Mao die Fackel der Kulturrevolution.

Jugendliche und Studenten wurden mobilisiert, sie fühlten sich geehrt, betrachteten es als ihre Aufgabe, das rote Regime zu schützen und zu bewahren (die Farbe Rot symbolisiert für die Chinesen Glück und Verheissung). Auf dem Tiananmen-Platz (wörtlich: das Tor des himmlischen Friedens) versammelten sich Mitte August 1966 eine Million Rotgardisten in der Uniform der Volksbefreiungsarmee, um die Kulturrevolution zu feiern. Mao erschien in gottgleicher Pose und begrüsste die Anwesenden. Bis zum Ende dieses Jahres sollten mehr als zehn Millionen junge Chinesen von Mao empfangen werden.

Pilgerfahrt nach Peking

«Ende Oktober kamen Dutzende Rotgardisten in unsere Schule zurück. Sie waren vom Vorsitzenden als fünftes Kontingent empfangen worden. Sie erzählten unter Tränen, wie glücklich sie waren, vom Grossen Vorsitzenden Mao empfangen worden zu sein. Nun waren auch wir an der Reihe, der Schwung der war nicht mehr aufzuhalten . . . Der die Roten Garden für den Mao-Besuch abholende Sonderzug hielt an jeder Station. Dieser war äusserst schwer beladen. Auf dem Gepäckregal, unter den Stühlen, in den WC – überall war er voll besetzt. Von Wuchang bis nach Peking waren wir mehr als sechzig Stunden unterwegs. Wir litten darunter, unsere Notdurft nicht verrichten zu können. Wir mussten gezwungenermassen stehend in die Hose pinkeln. Der Nordwind blies den Gestank des Urins weg, wir waren beinahe ohnmächtig vor Hunger und Durst.

Am 1. November 1966 um etwa vier Uhr kamen wir endlich in Peking an. Viele konnten nicht mehr gehen. Wir stiegen aus und sahen den grossen Stoffstreifen, auf dem stand: Auf dem für die Ankömmlinge vorgesehenen Platz hüpften Hunderttausende, um sich aufzuwärmen, und assen die ausgeteilten gedämpften Brote neben den Feuerplätzen (wo zu Kleinholz gemachte Türen, Tische und Stühle verbrannten).

Nach einer Wartezeit von etwa zwei Wochen kam der wichtige Tag. Wir waren endlich an der Reihe, um von unserem Vorsitzenden empfangen zu werden! Wir gingen zu Fuss mehrere Stunden durch die Stadt, und noch einmal mehrere Stunden warteten wir in der bitteren Kälte. Dann kam der Moment: Ich stand vom Vorsitzenden Mao, der im Auto vorbeifuhr, nur etwa zwölf Meter entfernt. Ich riss die Augen auf, sah aber nur, dass er, gekleidet in eine Militärmütze und einen grauen Mantel, sich wie eine Statue langsam drehte. Seine Stimme war nicht zu hören, seine Augen waren nicht zu sehen, und sein Gesichtsausdruck war verschwommen. Um mich herum hörte ich die Rotgardisten weinen, lachen und schreien. Nachdem der Konvoi mit Mao verschwunden war, herrschte für einen Moment tiefe Stille. Dann brüllte jemand plötzlich:

Die Menge zerstob. Zahllose Kreise von etwa fünfzehn Metern Durchmesser wurden gebildet. Bei den Männern wurde stehend gepinkelt. Bei den Frauen schützten die am Kreisrand stehenden die im Inneren hockenden. Die Kreise waren nicht einmal zwanzig Meter voneinander entfernt. Man hörte sich gegenseitig gut. »

So schrieb ein Rotgardist.

Mao Zedong war der Fixstern der damaligen Chinesen. Seine Meinungen waren die Meinungen des ganzen Volkes von 800 Millionen Menschen. Sie wollten oder mussten eins: «die grosse rote Flagge des Mao-Zedong-Denkens hochhalten, sich um die Partei und den Vorsitzenden scharen und alle Umsturzpläne der Revisionisten zerstören». Was man tat, sprach und schrieb, hatte mit «unser grosser Führer, der Vorsitzende Mao, hat uns gelehrt . . .» zu beginnen. Auf Kalender, Zeitungen, Briefköpfe wurden Maos Worte gedruckt. «Möge der Vorsitzende lange leben» war der erste Satz in aller Korrespondenz.

KLassifizierte Menschen

Menschen versammelten sich täglich vor und nach der Arbeit. Morgens drückten sie das Rote Büchlein ans Herz und verbeugten sich dreimal vor dem Porträt Maos. Sie schwangen das Büchlein im Rhythmus vor dem Kopf und skandierten zusammen: «Dem Vorsitzenden Mao langes Leben, dem Vize-Vorsitzenden Lin gute Gesundheit.» Danach rezitierte der Versammlungsleiter Mao-Worte und gab bekannt, was die Arbeiter an dem Tag zu tun hätten. Abends wurde das Ritual wiederholt. Anschliessend wurde darüber diskutiert, was getan worden war und was noch verbessert werden konnte. «Navigation stützt sich auf den Steuermann. Pflanzenwachstum stützt sich auf die Sonne. Revolution stützt sich auf das Denken Mao Zedongs», sang man damals.

Die Revolution klassifizierte Menschen gemäss ihrem Familienhintergrund. Die «fünf schwarzen Typen», Bodenbesitzer, reiche Bauern, Reaktionäre, Rechtsabweichler und gewöhnliche Kriminelle (die einzige «unpolitische» Kategorie), wurden grausam verfolgt. Obwohl nach all den Kampagnen eigentlich keine «Kapitalisten» mehr existierten, war automatisch zum Volksschädling vorbestimmt, wer wohlhabende Eltern oder Grosseltern hatte. Jammerte man über die schwierigen Lebensbedingungen, galt man als reaktionär; presste eine alte Frau ein Ei aus dem Hinterteil eines Huhnes heraus, marschierte sie «auf dem kapitalistischen Weg».

Die pausenlosen Kampf- und Kritiksitzungen drehten sich um diese «fünf schwarzen Typen». Menschen, die Peking-Oper sangen, die schöne Kleider besassen, die das Rote Büchlein unachtsam beschmutzten, die in den Versammlungen keine Selbstkritik ausübten, wurden durch Schläge, Fusstritte oder Beschimpfungen gedemütigt und mit hohen Hüten sowie denunziatorischen Postern um den Hals (auf denen ihre Namen und die verbrecherischen Taten geschrieben standen) durch die Strassen getrieben. Wer von seiner Abstammung her politisch benachteiligt war, konnte sich unter Umständen durch die erwünschte politische Selbstentblössung retten. Die Partei in ihrer Güte gab also doch Gelegenheit, sich zu reinigen, zu säubern und zu reintegrieren. Die Kampagne ersetzte die Justiz, und jede Kampagne schuf ihre eigenen Gesetze.

Alles Alte ist Falsch

Die Rotgardisten waren aufgerufen, alles alte Gedankengut, die alte Kultur, die alten Gebräuche und Gewohnheiten (die «vier alten Dinge») zu vernichten, denn «Rebellieren ist berechtigt». Da Rot und Links als revolutionär galten, wurde entschieden, dass der Rechtsverkehr durch Linksverkehr ersetzt werden und dass an Ampelkreuzungen Rot das Zeichen für freie Fahrt sein sollte, was zu Chaos und zahllosen Unfällen führte.

Die Strasse vor der sowjetischen Botschaft wurde in Anti-Revisionismus-Strasse umbenannt (die Volksrepublik kritisierte damals den Chruschtschewschen Revisionismus). Die Abteilung für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften wurde durch die Mao-Zedong-Denken-Abteilung ersetzt. Menschen, Orte und Einrichtungen, deren Bezeichnung auf feudale, imperialistische oder kapitalistische Verbindungen zu schliessen schien, wurden umbenannt. Die traditionellen Inschriften wurden mit revolutionären Slogans, wie «An allem zweifeln, allem misstrauen, die Klassenfeinde niederschlagen», überschrieben. Bedeutende Kulturdenkmäler wurden beschädigt oder zerstört, Tempel, Museen, Klöster, Moscheen, Gräber abgerissen. Buddhistische Mönche und Nonnen mussten heiraten, uralte Koran-Ausgaben wurden verbrannt.

Die Zerstörung der Buddha-Statue in Bamian durch die Taliban wurde durch die Rotgardisten bereits vorexerziert. Die Leichen verstorbener historischer Persönlichkeiten wurden aus den Gräbern geholt, an Kampfsitzungen ausgestellt und mit Kritik bedacht, danach wurden ihre Schädel und Skelette durch die Strassen geschleppt, zerstückelt und verbrannt. Auch Konfuzius blieb nicht verschont. Seiner Statue brach man die Augen heraus, die Stelle, wo das Herz sich befinden sollte, wurde durchbohrt. Sein «Körper» wurde mit Spruchbändern überklebt. Man setzte die Statue auf einen Lastwagen, fuhr sie durch die Strassen und zerstörte sie.

Zur Vernichtung von Kulturgütern kamen die Hausdurchsuchungen. Die Rotgardisten drangen in die privaten Häuser ein. Antiquitäten, klassische Bücher, westliche und traditionelle Musikinstrumente, Stoffe, Schmuck, Bild- und Schriftrollen wurden beschlagnahmt und verbrannt. Die Mutter, die in traditionellem Kleid elegant auf einer Fotografie zu sehen war, galt als kapitalistisch. Der Onkel, der in Frankreich studiert hatte, als imperialistisch. Was man als schön, richtig, höflich, gerecht, wertvoll, erstrebenswert betrachtet hatte, galt jetzt als Proletariats-feindlich. Alte chinesische Weisheiten wie «Ein Lehrer für einen Tag gleicht einem Vater fürs ganze Leben» oder «Eltern sind unfehlbar» gehörten nun zu der Kategorie der «vier alten Dinge». Tätlichkeiten von Schülern gegen Lehrer, von Kindern gegen Eltern wurden öffentlich gepriesen, denn die «letzte Generation» musste für ihren mangelnden Revolutionsenthusiasmus hart angefasst werden. Lehrer wurden kahlgeschoren und mit Tinte übergossen. Die hingerichteten Reaktionäre wurden von Freunden und Verwandten verleugnet; ihre Kinder lehnten es ab, den Leichnam zu begraben.

Auf dem Land wurde «Sondergerichte der armen Bauern» geschaffen. Die Partei-Kader hielten dabei den Richterposten inne. Wegen Kleinigkeiten rächte man sich, nahm «die Feinde der proletarischen Klasse» gefangen. Die Richter übten brutale Folter, schleppten die «Verbrecher» zur Kampf- und Kritiksitzung. Die Schadenfreude war gross. Wenn die Richter schuldig sprachen, wurde applaudiert. Kleinkalibergewehre mit Vogelschrot wurden nun gegen Menschen gerichtet. Die «Klassenfeinde» wälzten sich, heulten, zuckten. Blut und Sand vermengten sich. Ein Schuss, noch einer, bis die Verrenkungen aufhörten. «Die Sonne ist die Roteste, der Vorsitzende ist der Teuerste», sangen die Zuschauer laut und lang.

Schnell wurde diese Freude am Töten zum Wettkampf. Dörfer bewarben sich darum, welches am meisten «schwarze Typen» hinrichtete. Bei diesem Wettbewerb standen zehn Tötungsmethoden zur Verfügung: erschiessen, Kehle durchschneiden, ertränken, explodieren lassen, in tiefe Höhlen stossen, lebend begraben, totschlagen, ersticken, verbrennen und totschmeissen (bei «kriminellen» Kleinkindern angewandt).

Ein Zweijähriger wurde in einen Keller geworfen. Das auf dem Boden des Kellers brennende Stroh erzeugte dicken Rauch. Seine achtjährige Schwester rannte schreiend weg, wurde bei ihren Zöpfen gepackt und gleich ihm in den Keller gestossen. Eine 63-jährige Frau wurde zum Fluss abgeführt. Man wollte sie an einen grossen Stein festbinden und in den Fluss werfen. Unterwegs hatte sich die als Gürtel dienende Schnur ihrer Hose abgelöst, sie war nun halbnackt. Die Frau bat darum, die Hose wieder richtig anziehen zu können, was aber abgelehnt wurde. Sie starb ohne jegliche Würde. Man tötete Kinder, damit sie sich in der Zukunft nicht rächen konnten. Man tötete die Alten, damit man für den Wettbewerb mehr Punkte bekam. Dies war ein gigantischer kollektiver Wahnsinn, in den man sich hineinstürzte und in dem man sich wohl fühlte. Bis das Tötungsverbot aus der Zentrale in Peking ankam, waren allein im Bezirk Dao in der Provinz Hunan bereits Tausende Unschuldiger ermordet worden.

Keine Angriffe von aussen, kein Bürgerkrieg. Niemand versuchte das kommunistische Regime zu stürzen, niemand hatte die Absicht, Mao umzubringen. Die von der Partei selbst mobilisierte Hysterie führte zu einer erschütternden Bilanz: Mehr als 7 Millionen Menschen kamen auf nicht natürliche Weise um, mehr als 130 000 wurden offiziell hingerichtet, mehr als 230 000 starben als Gewaltopfer, mehr als 700 000 endeten als Behinderte, mehr als 700 000 Familien wurden zerstört, mehr als 420 000 wurden gefangen genommen, 100 Millionen Menschen wurden in angebliche Verbrechen hineingezogen und mussten mitbüssen. Männer töteten Ehefrauen und die eigenen Kinder, um Mao Treue zu bekunden. Kinder töteten Eltern, um ihren jungen revolutionären Eifer zu beweisen. Hass war das vorherrschende Gefühl: Richtig und Falsch, Schwarz und Weiss, Echt und Unecht waren nicht mehr zu unterscheiden.

Lob der «Arbeit»

Bereits auf dem achten Parteikongress 1956 hatte Liu Shaoqi verkündet, die Klassengesellschaft sei in China eliminiert und das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft erreicht. Nichtsdestoweniger erhielten die Mitglieder des Staats- und Parteiapparates und ihre Angehörigen Zugang zu besseren Bildungseinrichtungen, zu komfortableren Wohnungen und fortgeschrittenerer medizinischer Versorgung gemäss ihren Rangunterschieden, was aber nicht als «sechster schwarzer Typ» eingestuft wurde.

Die Kulturrevolution pries physische Arbeit (welche der chinesischen Mentalität widerspricht). Die Kampagne war aber nicht für Arbeiter bestimmt: Fast 17 Millionen Jugendliche wurden aufs Land oder in die abgelegenen Berge verschickt, um «von den Bauern zu lernen», da nach der Zerstörung durch die Rotgardisten keine Ausbildungsstätten mehr zur Verfügung standen. Akademiker, Schriftsteller und Intellektuelle, die als rechtsgerichtet beurteilt wurden, wurden in Arbeitslagern interniert. Physische Arbeit wurde so einerseits als revolutionär gepriesen, andererseits aber auch als Strafe verabreicht. – Die «Grosse Proletarische Kulturrevolution» war ursprünglich ein Machtkampf innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas. Unter der Parole «Eliminierung der Machthaber des Kapitalismus» wurde das Volk manipuliert und benutzt. Der Aufruhr verschleierte die Ambition Maos sowie derjenigen, welche ihre Gegner schikanieren wollten. Man hatte allerdings nicht daran gedacht, dass ein einmal mobilisiertes Volk nicht leicht wieder zu bändigen ist. Die Kulturrevolution sollte zehn Jahre dauern, bis zum Tod Maos 1976. Danach wurde die Verantwortung für das Unheil der aus drei wichtigen Parteimitgliedern sowie Maos Ehefrau Jiang Qin bestehenden sogenannten «Viererbande» zugeschrieben. 1981 legte ein Parteidokument die offizielle Lesart fest: Die Kulturrevolution war ein für die Partei, die Nation, Chinas Völkerschaften katastrophaler inländischer Aufruhr, der von politischen Führern unter falschen Voraussetzungen veranlasst und von reaktionären Gruppen benützt wurde.

Viele fragen nach dem Grund, weshalb solches geschehen konnte. Eine während sieben Jahren gefangen gesetzte Kritikerin Maos, Zhang Zhixin, wurde im Umerziehungslager wahnsinnig. Sie ass gedämpfte Brote, getunkt ins Blut ihrer Menstruation, und verrichtete ihre Notdurft auf dem Bett. Aus Furcht, dass sie bei ihrer Hinrichtung ihre Stimme gegen Mao erheben würde, wurde ihr die Kehle durchgeschnitten. Eine Wächterin wurde bei dieser Szene ohnmächtig. So mussten die damaligen Chinesen entweder schweigen oder mitmachen. «Einen bestrafen, um Hunderte abzuschrecken», heisst eine chinesische Redewendung.

Die Chinesen waren «in den Kommunismus hineingerannt». Die Kommunistische Partei Chinas ist aber durch die Kulturrevolution schwächer geworden. Die «siebzehn Jahre» werden heute neu bewertet, alle Kampagnen gelten nun als falsch. Während der Kulturrevolution musste man gezwungenermassen nach der Arbeit den Politikunterricht besuchen. Heutzutage ist jedes politische Engagement des Volkes der chinesischen Regierung ein Dorn im Auge.

China wird die Kulturrevolution zwar nicht völlig verleugnen können, aber es wird weiterhin so tun, als ob die Autorität Maos und der Partei unberührt geblieben seien. Selbstkritik aus freien Stücken bleibt der chinesischen Kultur fremd. Das Prinzip der Gesichtswahrung sitzt tief, und es herrscht die Doppelmoral: Zwar soll Japan seine Greueltaten aus dem Zweiten Weltkrieg in seinen Geschichtsbüchern zugeben, die KP wird sich aber für die Kulturrevolution noch lange nicht beim Volk entschuldigen.